„SMART Wallpaper On-Demand: Wie Digitalisierung und Individualisierung eine traditionelle Branche neu erfinden“
- Stefan Neumann
- 9. Dez. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Jan.
""Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren."
(traditioneller russischer Trinkspruch)
Michael Gorbatschow 1989
Interview
mit Stefan Neumann und Aram Radomski - CEO Berlintapete GmbH
2.12.2024

Stefan Neumann: Herr Radomski, die Tapetenindustrie steht offenbar vor großen Veränderungen. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?
Aram Radomski: Wir sehen einen deutlichen Trend weg von Massenfertigung hin zu On-Demand-Modellen. Kunden wollen mehr Individualität, schnellere Reaktionszeiten und nachhaltige Lösungen. Die klassische Serienproduktion steht da zunehmend unter Druck.
Stefan Neumann: Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?
Aram Radomski: Eine sehr große. Digitale Drucktechnologien ermöglichen es, jeden Auftrag auf Zuruf zu erfüllen, Motive individuell anzupassen und damit Überproduktion zu vermeiden. Mit Online-Konfiguratoren können Kunden ihre Tapete selbst gestalten – das stärkt die Kundenbindung enorm.
Stefan Neumann: Was bedeutet das für die Beschäftigten in traditionellen Fabriken?
Aram Radomski: Die Tapetenindustrie beschäftigt derzeitig noch 900 Mitarbeiter in ganz Deutschland. Diese werden sich bald umorientieren müssen, aber das ist eine Chance. Durch Schulungen und Weiterbildungen können Mitarbeiter lernen, mit modernen Drucksystemen umzugehen oder Kunden im Gestaltungsprozess zu beraten. So wird aus einem reinen Fertigungsmitarbeiter vielleicht ein Experte für digitale Produktionsabläufe.

Stefan Neumann: Ist Nachhaltigkeit nur ein Trend oder ein echter Erfolgsfaktor?
Aram Radomski: Sie ist längst ein Erfolgsfaktor. On-Demand-Fertigung reduziert Abfall, schont Ressourcen, und umweltfreundliche Materialien sind ein klarer Pluspunkt beim Kunden. Das ist kein kurzfristiger Hype, sondern eine langfristige Anforderung an die gesamte Branche. Schauen Sie nur auf den exorbitanten Abfall und Sondermüll den die traditionelle Tapetenindustrie verursacht. Vom Energieverbrauch einmal ganz zu schweigen.
Stefan Neumann: Also gibt es Ihrer Ansicht nach auch Grund zu Optimismus?
Aram Radomski: Absolut. Wer jetzt in Technologie, Weiterbildung und nachhaltige Prozesse investiert, kann langfristig profitieren. Die Branche hat die Chance, sich neu zu erfinden und näher an den Kunden heranzurücken. Ich bin überzeugt, dass wir in den nächsten Jahren viele positive Entwicklungen sehen werden.
Stefan Neumann: Herr Radomski, die neuen On-Demand-Modelle setzen oft auf fortschrittliche Digitaldruckverfahren, bei denen auch modernste fotografische und computergrafische Mittel zum Einsatz kommen. Wie wichtig ist es in diesem Zusammenhang, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus traditionellen Betrieben mit diesen Technologien vertraut werden?

Aram Radomski: Ich halte das für einen entscheidenden Faktor. Moderne Digitaldrucksysteme sind deutlich komplexer als klassische Druckmaschinen. Sie nutzen hochauflösende, fotografisch anmutende Vorlagen, oft kombiniert mit computergenerierten Mustern und Effekten. Damit ein Betrieb hier Schritt halten kann, reicht es nicht aus, lediglich neue Maschinen aufzustellen – das Personal muss verstehen, wie die digitalen Vorlagen entstehen, wie sie optimiert und schließlich einwandfrei auf das Trägermaterial übertragen werden. Eine gewisse Vertrautheit mit Grafiksoftware, Bildbearbeitungsprogrammen und Farbmanagement-Systemen ist dabei unerlässlich.
Gleichzeitig bringt diese Umorientierung neue Chancen mit sich: Wer sich weiterbildet, wird zu einer gefragten Fachkraft, die sowohl technische als auch gestalterische Aspekte des Produktionsprozesses beherrscht. Diese Experten können dann eng mit Designstudios, Fotografen oder kreativen Agenturen zusammenarbeiten, um einzigartige Motive zu entwickeln, die den Kunden einen echten Mehrwert bieten. Langfristig stärkt das nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs, sondern auch die eigene berufliche Perspektive in einer Branche im Wandel.
Die Zukunft der Tapetenindustrie: Vom Massenprodukt zum individuellen Designobjekt
Die Tapetenbranche befindet sich in einer tiefgreifenden Umbruchphase, wie sie in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt wurde. Wo einst groß angelegte Produktionsanlagen unzählige Rollen ein- und desselben Musters spuckten, stehen Unternehmen heute vor der Herausforderung, sich neu zu erfinden. Die Ursachen dafür sind vielfältig: steigende Energie- und Produktionskosten, intensiver internationaler Wettbewerb, strengere Umweltauflagen und nicht zuletzt die veränderten Erwartungen der Kundschaft. All dies führt dazu, dass die traditionelle Tapetenfertigung unter Druck gerät – ein Trend, der sich durch Deindustrialisierungstendenzen in Mitteleuropa verstärkt.
Individuelle Wünsche statt Massenware
Zeitgleich wächst das Bedürfnis nach Individualisierung. Kunden wollen keine Standardware von der Stange, sondern Designs, die ihre Persönlichkeit, ihren Geschmack oder ihre Marke widerspiegeln. Das gilt sowohl für Privatkunden, die dem Wohnraum einen unverwechselbaren Charakter verleihen möchten, als auch für gewerbliche Abnehmer wie Hotels, Restaurants, Ladenlokale oder Büros. Diese Nachfrage nach maßgeschneiderten Lösungen ist eine Chance für die Branche, sich neu zu positionieren.
On-Demand als Schlüssel zur Flexibilität

Ein zentrales Konzept in diesem Wandlungsprozess ist die On-Demand-Fertigung. Statt große Lagerbestände anzuhäufen und zu riskieren, dass ganze Kollektionen veralten und als Ladenhüter enden, wird nur noch auf Abruf produziert. Das heißt: Erst wenn ein konkreter Auftrag vorliegt, beginnt die Herstellung der Tapete. Diese Herangehensweise hat gleich mehrere Vorteile. Zum einen sinken die Lagerkosten, da kaum noch Produkte „auf Vorrat“ hergestellt werden müssen. Zum anderen lassen sich dadurch Marktrisiken senken und Ressourcen schonen.
On-Demand eröffnet zudem neue Geschäftsmodelle. Moderne Digitaldrucktechnologien erlauben es, hochauflösende Motive in beliebigen Stückzahlen herzustellen – von der einzelnen Rolle für ein privates Wohnzimmer bis hin zu maßgeschneiderten Großauflagen für ein Hotel. Digitale Konfiguratoren, über die Kunden Motive hochladen oder aus Kuratierungen von Künstlern und Designstudios wählen können, bringen das Produkt näher an den Endverbraucher. Wer möchte, kann sich so sein eigenes Kunstwerk an die Wand holen, ohne Kompromisse bei der Qualität eingehen zu müssen.
Von der Fabrik zum kreativen Dienstleister

Eine solche Neuausrichtung verlangt jedoch ein Umdenken in den Unternehmen selbst. Wo zuvor starre Abläufe herrschten, braucht es nun Flexibilität: Maschinen, die schnell umrüstbar sind, Zulieferketten, die auf kleinste Bestellmengen ausgerichtet sind, und hochqualifizierte Mitarbeiter, die mit den neuen Technologien umgehen können. Das bedeutet, dass Unternehmen in Schulungen investieren und ihre Belegschaften weiterbilden müssen. Wer jahrelang an klassischen Druckmaschinen arbeitete, kann künftig Spezialist für Digitaldruck werden. Wer bisher überwiegend Lager und Logistik managte, könnte sich zum Koordinator komplexer On-Demand-Lieferketten entwickeln.
Auch die Rolle der Mitarbeiter in der Kundenbetreuung ändert sich. Gefragt sind zunehmend Berater, die Kunden bei der Motivsuche unterstützen, Designer, die einzigartige Muster entwerfen, oder technische Experten, die Online-Plattformen und Konfiguratoren pflegen. So entsteht ein neues, vielschichtigeres Kompetenzprofil in den Betrieben. Eine solche Qualifizierungsoffensive kostet zwar Mühe und Ressourcen, doch langfristig zahlt sie sich aus: Unternehmen, die ihre Mitarbeiter durch den Wandel mitnehmen, sichern sich wertvolles Know-how und Fachkräfte, die ihre Erfahrungen in die neue Ära übertragen.
Nachhaltigkeit als zentraler Faktor
Eine weitere tragende Säule dieses Wandels ist die Nachhaltigkeit. Die Herstellung von Tapeten auf Abruf reduziert Abfall, senkt den Energie- und Materialverbrauch und minimiert den ökologischen Fußabdruck. Kunden legen zunehmend Wert auf umweltfreundliche Produkte. Wer innovative, schadstoffarme Materialien einsetzt und verantwortungsvoll produziert, verschafft sich einen klaren Wettbewerbsvorteil. Wenn Nachhaltigkeit konsequent in die Geschäftsstrategie integriert wird, profitieren nicht nur Umwelt und Gesellschaft, sondern auch das Markenimage.
Neue Geschäftsmodelle jenseits der Massenfertigung
Der Schritt hin zu On-Demand kann auch mit ganz neuen Geschäftsmodellen verbunden werden. Denkbar sind beispielsweise Plattformen, auf denen Designer, Künstler oder Architekten ihre Entwürfe einstellen. Kunden können aus diesem Pool wählen oder selbst Motive hochladen. Der Hersteller tritt dann als Dienstleister auf, der nicht mehr nur Standardware produziert, sondern nach Bedarf exklusive Designs fertigt. Zudem lassen sich Abonnement- oder Mietmodelle vorstellen, bei denen Unternehmen saisonale oder zeitlich befristete Gestaltungskonzepte beziehen, die regelmäßig gewechselt werden.
Im gewerblichen Sektor ist die Personalisierung ein echter Mehrwert: Hotels können den Eingangsbereich in regelmäßigen Abständen neu inszenieren, Restaurants passen ihr Ambiente den Jahreszeiten an, Firmen aktualisieren ihre Wände, um ein bestimmtes Produkt oder eine Kampagne zu bewerben. All das ist durch On-Demand-Fertigung und digitale Technologien mit weniger Aufwand und geringeren Kosten als bisher möglich.
Blick in die Zukunft
Branchenexperten wie Aram Radomski, der den Wandel aufmerksam beobachtet, sind zuversichtlich. Zwar ist klar, dass die traditionellen Geschäftsmodelle, die auf Masse und minimalen Stückkosten beruhen, stark unter Druck stehen. Doch an ihre Stelle treten neue Chancen, die es ermöglichen, näher am Kunden zu agieren, innovativer zu produzieren und nachhaltiger zu wirtschaften. Mit klugem Investment in Technologie, Personalentwicklung und digitale Plattformen kann die Tapetenindustrie gestärkt aus dem Umbruch hervorgehen.
Unternehmen, die nicht an alten Strukturen festhalten, sondern den Wandel aktiv gestalten, können sich langfristig Vorteile verschaffen. Sie können nicht nur mit individuelleren, umweltfreundlicheren und hochwertigeren Produkten punkten, sondern auch neue Kundengruppen erschließen und ihre Marke neu positionieren. Die Reise ist anspruchsvoll, aber sie bietet die Gelegenheit, die eigene Rolle in der Wertschöpfungskette neu zu definieren – als Gestalter, Dienstleister und Partner der Kunden, statt als reiner Produzent von Massenware.
Fazit
Die digitale Transformation, On-Demand-Fertigung, Nachhaltigkeit und individuelle Gestaltung sind die entscheidenden Hebel, mit denen sich die Tapetenindustrie auf ein neues Fundament stellen lässt. Wer jetzt die richtigen Weichen stellt, kann optimistisch in die Zukunft blicken. Der Markt ist reif für neue Ideen – und die Tapete, einst ein simples Dekorelement, hat das Potenzial, zum Ausdruck eines zeitgemäßen, kundenzentrierten und ökologisch bewussten Wohn- und Gestaltungskonzepts zu werden.
Stefan Neumann © 2024
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